DER SCHMERZ UND ICH

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DAS ist keine Leidensgeschichte.

Es war eine Sensation für mich, als ich den Schmerz (wieder) entdeckte. Ich war in Wien und nahm an einem Workshop teil – fünf Tage in Folge, täglich vier Stunden ohne Pause Körperarbeit und Tanz.

Es war der dritte Tag, an dem die Dozentin, eine Übung anleitete, bei der wir zunächst 20 Minuten mit erhobenen Armen hüpften. Das an sich war schon eine harte Nummer – aber es ging. Irgendwie. Und dann kam die Aufforderung, die Arme nicht einfach fallen zu lassen, sondern im Zeitlupentempo abzusenken. Und im Sinkenlassen gab es auf einmal diesen Moment, indem ich mit dem Schmerz plötzlich auch pure Freude empfand. Sensationell!

Ich stand da und war begeistert und verwirrt. Was war das? Was ist da passiert? Das ist doch nicht normal. Oder doch? Ich wollte das wieder erleben. Und ich wollte es verstehen. Neurowissenschaftlich kann dieses Phänomen, das ich erlebte, erklärt werden. Aber das reichte mir nicht. Ich wollte mich nicht nur rein kognitiv damit beschäftigen, sondern es ganzheitlich erforschen und alle Aspekte des Seins beachten: Kognition, Emotion, Physis und Psyche.

Sensation geht auf lat. sensatio „das Empfinden; das Verstehen“ zurück.

Es war offensichtlich, dass es einen Unterschied in meinem Schmerzempfinden gibt. Zahnschmerzen mag ich nicht. Entzündete Muskelpartien mag ich auch nicht. Muskelkater dagegen mag ich sehr. Und schmerzende Füße nach einem Tanzunterricht mag ich auch sehr. Eine Massage schmerzender Muskeln kann ich auch sehr gut ertragen, weil ich mich auf das Erleben danach freue.


Was ich tat: Ich veränderte zum Beispiel mein Tanztraining, in dem ich es um Techniken erweiterte, die mit Erschöpfung arbeiten. Und parallel suchte ich Menschen auf, die sich mit Schmerz im Zusammenhang mit Lust beschäftigen. Und so besuchte ich zum ersten Mal einen BDSMStammtisch und ein -Studio. Ich entdeckte, dass ich es genieße, mich in einem eng geschnürten Korsett zu bewegen oder in Seilen fixiert zu werden, die womöglich auch noch Schmerz-Triggerpunkte treffen. Und ich lernte mich selbst als Person kennen, die auch gerne Schmerz zufügt. Was ich noch entdeckte: Freiwilligkeit und Achtsamkeit aller beteiligten Personen sind für mich unabdingbar. Ich habe eine Vertraute, die einen ähnlichen Weg geht und mit der ich über all dies sprechen kann – meine Freundin Julia. Sie ist Tänzerin wie ich. Macht auch viel Körperarbeit und reflektiert ihre Erlebnisse und Erfahrungen.

Als Julia ihre Lust am Schmerz entdeckte, deckte sie auch emotionale und psychische Traumata auf, die sie erlebt hatte. So nutzt sie den BDSM-Kontext auch, um sich auch dieser Sensation zu stellen. Wir plauderten viel über das Nervensystem, darüber, wie es funktioniert und wie man damit arbeiten und es trainieren kann. Wir erkannten den Respekt, den jede für sich, dem Erleben von Schmerz, aber vor allem sich selbst zollt.

Ich entdeckte im und mit dem Schmerz Lust und Freude.

Ich nahm den Wunsch, mehr davon zu erleben, ernst – ich respektierte ihn und ging dem nach. Julia entdeckte mit ihrer Lust auch etwas Bedrohliches, respektierte diese Empfindung und damit ihre Grenzen – und ging dem ebenso nach.


Wir sprechen im Zusammenhang mit BDSM so oft von Konsens. Was soll wann, wie, wo und mit wem passieren? Es geht um grundlegende Bedürfnisse, wenn wir von Sicherheit, Freiwilligkeit, Einvernehmlichkeit und Achtsamkeit sprechen. Ich habe mit und durch Schmerz viel über Respekt gelernt. Respekt kommt von dem lateinischen Verb respicere „zurück schauen; Rücksicht nehmen“.

Ich nehme Rücksicht auf meine Wünsche und Bedürfnisse, werde mir meiner selbst bewusst und sorge für meine Sicherheit.

Und so bin ich jetzt hier. Plaudere über meine Lust am Schmerz und erkenne, dass ich mehr Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit empfinde als zu Beginn meiner Forschungsreise.

AUTHOR: ANJA ABELS

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