DIE NEUN TORE DES KINBAKU

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GEMEINSAME REISE IN DIE TIEFEN DES SEINS

Wer bereits die Erfahrung gemacht hat, mit Seil zu fesseln oder gefesselt zu werden, merkt schnell, dass es hier um mehr als bloße Restriktion geht. Auf viele Menschen haben die Berührungen mit Seilen eine entspannende Wirkung, fast meditativ. Ähnlich wie bei einer Massage begibt sich das Model so nennt man in der Szene die gefesselte Person – in eine kontrollierte Situation aus Berührungen und Gehalten werden.

Es besteht die Chance, den Alltag und Gedanken loszulassen, einzutauchen in den so genannten „Subspace“. Subspace ist ein Zustand tiefer Entspannung, Losgelöstheit und oft auch Euphorie, der durch die Erfahrung intensiver körperlicher Stimulation und emotionaler Verbindung während des Shibari erreicht wird. Rigger*innen, also die fesselnden Personen, stehen vor der Herausforderung, die Seilhandhabung und die liebevolle Kontrolle über das Model zu managen, das Gefühl von Präsenz und Sicherheit stetig aufrecht zu erhalten. Die Session miteinander beginnt schon vor der ersten Berührung. Wie sitzen wir zueinander, wie sehen wir uns an? Während der Session berühren wir nicht nur mit dem Seil den Körper, sondern wir berühren den Geist. Doch wie? „Kinbaku“ beschreibt den Weg des Fesselns.


Im Jahr 2007 hat Osada Steve erstmals die „Tore des Kinbaku“ formuliert. Er beschrieb das, was er von seinen Lehrern beobachtet hatte anhand von Techniken und japanischen Philosophien. Sie beschreiben die Energien und das Handeln miteinander. Das Fesselpaar durchschreitet diese Tore, um Verbundenheit und Freiheit im Geist zu spüren.


Osada Steve selbst kommt ursprünglich aus Berlin und lebt seit 1980 in Japan. Über die Mode- und Fetishfotografie gelangte er schließlich in Japans Subkultur und war fasziniert von der Kunst des Shibari, also der Fesselkunst. Insgesamt können Shibari und Kinbaku als verwandte, aber unterschiedliche Ansätze zur Kunst des Fesselns betrachtet werden, wobei Kinbaku oft eine spezifischere und ästhetischere Ausrichtung hat, während Shibari als allgemeinerer Begriff für Bondage verwendet wird. Osada Steve lernte von verschieden Riggern der Szene – unter anderem Osada Eikichi, der auch Osada Steves Szenenamen prägte. 2000 eröffnete er sein eigenes Studio. Osada Steve war maßgeblich daran beteiligt, dass Shibari auch in Europa und den USA Bekanntheit und Faszination erlangte.

Mit der Eröffnung des Studio SIX ebnete er den Weg, selbst zu lehren. 2007 formulierte er die Prinzipien des Osada-Ryu, seine Fessellehre, die seitdem starken Einfluss auf die westliche Bondage-Welt hat.

Die neun Tore des Kinbaku sind als Prinzipien des Osada-Ryu neben den technischen Elementen ein wesentlicher Bestandteil dieses Fesselstils. Unabhängig davon, ob wir beim Fesseln „einer Lehre folgen“ können wir viel aus den neun Elementen entnehmen.

Benannt sind die Tore wie folgt:

1. Position (tachi-ichi)

2. Distanz (ma-ai)
3. Seilführung (sabaku)

4. Versteckte Technik(en) (urawaza)
5. Energie (ki)

6. Tempo und Rhythmus (kankyū)
7. Intuition (kan)

8. Leerer Geist (muganawa)
9. Mündliche Tradition (kuden)

Tachi-ichi beschreibt die Positionierung der fesselnden Personen sowohl im Raum, als auch zueinander. Sehen sie sich an oder können sie sich nur spüren, haben sie Platz im Raum oder beschleicht sie ein Gefühl der Enge? Ma-ai bezieht sich auf die Distanz, die die Fesselnden zueinander haben. Wo berühren sich ihre Körper, ist die fesselnde Person in schützender Nähe oder beobachtet sie die Schönheit des Models mit etwas Abstand? Die Seilführung, Sabaku, ist eine der vielfältigsten Techniken. Fliegt das Seil durch die Luft, ehe es den Körper des Models berührt oder wird es sanft auf die Konturen gelegt? Kann das Model die Vibrationen des Seils auf der Haut spüren? Urawaza, die versteckten Techniken sind die Würze einer Fesselsession. Eine kurze Berührung, ein tiefer Atemzug, ein Moment der Enge, ein kleiner Handgriff im Seil – hier kommt Überraschung ins Spiel – die Dinge, die nur das Fesselpaar spürt und die von der Außenwelt bloß erahnt werden können.


Ki kennt man auch aus Kampfsportarten. Wo kommt die Energie her und wie trifft sie auf die Person? Ki ist der Energiefluss zwischen den Körpern und mit der Außenwelt. Ein schwungvoller Schlag mit dem Seil bringt die Energie aus der Luft ins Model; eine feste Umarmung gibt dem Model die Energie des Riggers oder der Riggerin. Kankyū – es ist wie ein Tanz – Tempo und Rhythmus bestimmen die Bewegungen und den Fluss miteinander, lassen die Session schwungvoll werden und sorgen für innige Momente beim Führen und Führenlassen. Was möchten wir kommunizieren ohne unsere Stimme zu erheben? Kan Intuition lässt uns tiefer miteinander in eine Session gleiten, einander zuhören und kennenlernen, ohne mit Worten zu erklären. Wo geht die gemeinsame Reise hin? Das Model zeigt es durch seine Körpersprache, durch den Atem, die Sanftheit der Berührungen oder einen Blick. Intuition heißt zu verstehen, wohin die Reise des Fesselpaars geht und warum diese Session miteinander stattfindet. Muganawa – und wenn diese Tore miteinander durchschritten wurden, ist da der leere Geist.

Wir denken nicht an gestern, an morgen. Wir sind miteinander im Hier und jetzt, wir spüren uns selbst, haben Platz für unsere Emotionen, für das, was in diesem Moment passiert. Wir erlangen Frieden in den Seilen und haben Raum für alles, was sonst nicht spürbar ist. Kuden – diese Techniken lassen sich zwar niederschreiben, doch die Schlüssel, um die Tore zu durchqueren, lernen die Fesselnden nur durch Zusehen und -hören. Das beschreibt das neunte Tor, die mündliche Überlieferung.


Tatsächlich können Rigger*innen bestimmte Fesseltechniken und Handlungen dazu einsetzen, um ein weiteres Tor in der Session zu öffnen. Seilhandhabung, Knotenmuster, Bodyhandling – alles auf einmal zu beherrschen bedarf den Besuch von Workshops und Übung. Doch es lohnt sich, denn diese Techniken zu beherrschen kann zu ein intensives Erlebnissen führen, in einen Flow, ins Hier und Jetzt.

Ori, die Autorin des Artikels, prägte ihren Fesselstil maßgeblich mit diesen Kinbaku-Techniken. Infos zu ihrer Shibari-Kunst und Workshops findet ihr unter: instagram.com/ori_ropeart und https://t.me/ori_ropeart

AUTHOR: ORI /// FOTO: ORI

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