ABENTEUERLUST STATT ALLTAGSTROTT
„Am Wochenende bin ich auf Retreat.“ Man hört es immer öfter. Meistens verbunden mit der Info: „Ich bin dann schlecht erreichbar. Digital Detox.“
Aber was ist eigentlich ein Retreat? ChatGPT weiß Rat: „Ein Retreat ist ein Zeitraum, die eine Person oder eine Gruppe von Personen dazu nutzen, sich zurückzuziehen, zu reflektieren, zu regenerieren und sich auf bestimmte Ziele oder spirituelle Praktiken zu konzentrieren.
Retreats können verschiedene Konzepte haben, einschließlich spiritueller Rückzugsorte für Meditation, Yoga-Retreats zur körperlichen und geistigen Gesundheit, berufliche Retreats zur Team-Bildung und zur Entwicklung von Fähigkeiten sowie Rückzugsorte zur persönlichen Entwicklung und Selbstfindung. Die Dauer eines Retreats kann von wenigen Tagen bis zu mehreren Wochen variieren, abhängig von den Zielen und der Art des Rückzugs. Retreats bieten eine Gelegenheit, sich von der Hektik des Alltags zu lösen, neue Perspektiven zu gewinnen und sich auf persönliches Wachstum zu konzentrieren.“
Soweit so gut: Tatsächlich steht ein Retreat meistens im Zusammenhang mit Yoga, Meditation und Entspannung. Es gibt einen festen Zeitplan und gesundes Essen, auch auch Freizeitanteile. Meist soll man sein Handy ausschalten, um sich auf sich selbst und die „innere Reise“ konzentrieren zu können. Die Preise bewegen sich zwischen ein paar hundert und mehreren tausend Euro, je nachdem wie exklusiv die Unterkunft ist.
Neben Yoga-Retreats gibt es auch sexpositive Retreats, die ähnlich aufgebaut sind und nicht so spirituell, wie es die Herkunft vermuten lässt, eher wie so eine Art Übernachtungscamp für Erwachsene. Dabei gibt es feine Nuancen: Einige Konzepte tendieren in Richtung Achtsamkeit und allgemeines sexuelles Wohlbefinden, andere in Richtung Gruppensex und Selbstexploration, wieder andere in Richtung Paartherapie. Aber im Allgemeinen bleibt die übergeordnete Ethik recht beständig: Sexpositive Retreats bieten Räume, die sichere Umgebungen schaffen sollen, in denen Menschen Sexualität über längere Zeiträume miteinander erforschen können – fernab von der Mühsal des normalen Lebens.
In der Nähe von Berlin idyllisch am Bötzsee in Strausberg gelegen steht zum Beispiel das Seminarzentrum „Neue Spitzmühle“, das für alle Arten von Retreats geeignet ist. Es gibt einen großen Außenbereich mit Wiese, einen Lagerfeuerplatz, Möglichkeiten zum Zelten, einen Steg, ein Hot Tub mit Feuer beheizt, eine Sauna und verschiedene Häuschen für Workshops und Begegnung. Das Haupthaus bietet zirka 90 Personen Platz zum Übernachten in einfachen Mehrbett-Zimmern. Es gibt eine professionell ausgestattete Küche und einen großen Speisesaal. Neben ganz herkömmlichen Retreats mit Yoga und Achtsamkeit finden dort auch regelmäßig Tantra-Retreats statt, außerdem die „Intimate Revolution“ und das zehntägige „Mega Konk“.
Letzteres soll einen sexpositiven Freiraum schaffen, der mit den Begriffen Kink und Bewusstsein jongliert. Felix Ruckert, bekannt als Inhaber des Berliner Instituts für Körperforschung und sexuelle Kultur (IKSK), ist der künstlerische Leiter des Events. Er und sein Team versuchen nach eigenen Angaben, „ein Paralelluniversum zu schaffen, in dem alle Formen sexuellen Ausdrucks und Spiel willkommen sind. Konk definiert Bewusstsein als Konstrukt und übt sich daher in Dekonstruktion, Verflüssigung und Loslassen. Vorstellungen von Geschlecht, Neigung, Identität und Orientierung sind als Spielmaterial zu betrachten.
Konk versteht sich als elitär und avantgardistisch. Lauheit und Konventionen haben hier nichts zu suchen. Dies ist ein Wochenende für Fortgeschrittene jeder Art.“ Fortgeschritten zu sein auf dem Feld des BDSM und der Polyamourie ist tatsächlich hilfreich für dieses Retreat. Zirka 100 erfahrene Kinkster kommen hier für zehn Tage zusammen – es gibt spezielle An- uns Abreisetage. Wer zum ersten Mal teilnimmt, bekommt einen Mentorin an die Seite gestellt.
Alkohol und Drogen spielen hier kaum eine Rolle, denn nur nüchtern existiert Consent. Das Bootshaus dient als Playspace und ist 24/7 geöffnet für BDSM-Spiel und Shibari. Auf dem Gelände ist draußen
Nacktheit erlaubt, aber keine sexuellen Handlungen. Viele Teilnehmende kennen sich über viele Jahre, die meisten leben in nicht monogamen Lebensentwürfen.
Hier passiert alles gemeinschaftlich. Kochen, Essen, Spielen, abends am Lagerfeuer die intimen Begegnungen Revue passieren lassen. Den Tag über werden Workshops angeboten: Yoga, Kinky Lomi Massage, Speedfucking (wobei es nicht zu Penetration kommen muss), Wheel of Consent und viele mehr.
Das Schöne an so einem Retreat im Vergleich zu einer Party, die nur eine Nacht dauert: Die Zeit und Muse ist da, um Spielszenarien über mehrere Tage hinweg aufzubauen. Wer eine spezielle Fantasie im Kopf hat, kann die zum Beispiel beim Mittagessen mit anderen besprechen und dazu einladen. Am Abend kann sie bereits Wirklichkeit werden.
Die eher spirituell veranlagte jährlich stattfindende „Intimate Revolution“ erstreckt sich über fünf Tage und richtet sich an ein Vanilla-Publikum. „Die Intimate Revolution begann 2018 mit der Intension, dass es mehr an menschlicher Verbindung und Sexualität geben muss als es heute gibt. Mehr als die oberflächlichen Begegnungen, die Filme zeigen, mehr als die stereotypen Pornos, mehr als oberflächliche Begegnungen, die uns unzufrieden und leer
zurücklassen. Wir glauben, dass menschliche Verbindung und Sexualität so viel mehr bieten können“, heißt es auf der Webseite.
Menschliche Verbindung – darum geht es am Ende auf diesen sexpositiven Retreats. In der heutigen hochindividualisierten westlichen Gesellschaft ist viel von Vereinsamung die Rede, viele Menschen fürchten sich inzwischen vor Gruppen und Gemeinschaften, weil sie nicht wissen, wie sich sich verhalten sollen. Doch ist die Gemeinschaft nicht die grundlegendste und natürlichste Form der menschlichen Existenz?