„DRESSED AS GIRL“ ist die Wortbedeutung des Begriffes Drag. Doch es ist mehr als das, es ist eine Charakterbildung, ein zweites Ich, eine Identität.
Um diesen Artikel zu schreiben, durfte ich zwei Menschen kennenlernen, die an sehr unterschiedlichen Punkten ihrer Drag-Identität stehen. Zum einen ist da der Berliner Regisseur und Musicaldarsteller Enrico. Er erlebt Drag-Queens vor und hinter den Kulissen in seiner Arbeitswelt. Sein Drag-Charakter „Pia Oxford“ lebt seit über zehn Jahren in ihm. Philipp aus Frankfurt dagegen schiebt die Tür zur Drag-Welt gerade erst auf.
Philipp sieht nachdenklich aus. Er empfindet Freiheit bei dem Gedanken, sein zu können, was er möchte. Der Wunsch, eine Frau zu sein, ist bei ihm schon lange verankert. Drag macht es ihm erst seit etwa einem Jahr möglich, die Frau in ihm nach außen zu tragen. Und doch birgt es für ihn auch einen Widerspruch. Gesellschaftlich gesehen assoziiert er Drag mit dem „Unnormalen“ – Männer tragen keine Kleider. Aber er fragt sich gleichzeitig: Warum ist der Kleidungsstil denn unbedingt weiblich? Philipp spielt mit den Klischees einer binären Welt. Und doch gibt es Momente, in denen er genau das möchte – binär gesehen eine Frau sein. Bei Philipp verschwimmt die Drag-Identität mit der Frage nach Geschlecht und Gender. Seine Augen funkeln, wenn er von neuen High Heels und Make-Up-Tutorials spricht. Wenn man ihn nach seiner sexuellen Orientierung fragt, ist seine Antwort intuitiv: lesbisch.
Mit sechs Jahren sagte er das erste Mal bewusst: „Ich wäre lieber ein Mädchen.“
Er umgab sich mit Freundinnen und verabscheute Fußball. Mit 16 Jahren begann er zu tanzen. Erst 2022, da war er 33 Jahre alt, trug er seine weibliche Persönlichkeit erstmalig nach außen. Das war auf dem CSD, dem Christopher-Street-Day, der weltbekannten Pride Parade. Eine Freundin stand ihm schon seit einiger Zeit zu dem Thema zur Seite, neuerdings auch als Modeberaterin. Er kaufte gebraucht ein rotes Kleid und seine ersten High Heels in einem Outlet-Store. Für Philipp ein aufregender Moment, denn sein neuer Look zog nicht nur die Blicke anderer Kund*innen auf sich, Philipp kam damit auch aus seinem Versteck heraus. Seine Freundin schminkte ihn und schließlich komplettierte eine blonde Perücke das erste Outfit für „Die Philipp“. Auf dem Frankfurter Fransenflohmarkt kaufte er der Drag-Queen Vanessa P. ein schwarzes Kleid mit Strass-Steinen ab. Darin tanzte er später zu Silvester auf High Heels. Als er sich währenddessen in einem Spiegel erblickte, verspürte er plötzlich den Impuls, seine Perücke abzunehmen weil sie auf ihn wie eine Verkleidung wirkte. Er wolle sich aber nicht verkleiden – Kleider zu tragen steht für seine weitere Identität. Im Laufe des Jahres 2023 merkte Philipp, wie es ihn in seiner neuen Identität in die Öffentlichkeit zog. Durch seine jahrelangen Erfahrungen als Tänzer war die Bühne für ihn ein vertrauter Ort – und hier wollte er wieder hin.
Erstmal blieb es bei dem Wunsch, bis sich ihm endlich im September die Möglichkeit auf der Varieté-Veranstaltung „Teatro Delicat“ in Offenbach bot, aufzutreten. Einen Monat vor der Veranstaltung entschied er sich für den Auftritt seiner Drag-Queen. Eine verrückte Idee, denn er hatte weder eine Show noch Bühnenkleidung. Philipp wollte nicht einfach irgend einen Auftritt abliefern; er wollte dem Publikum eine Botschaft mitgeben und seine Identität dabei weder verkaufen noch verraten.
Ihm kam die Swing-Version des Liedes „Oops, I did it again“ in den Kopf, zu dem ihm direkt einige Anekdoten und der Bogen zum Dragsein und Sexualität einfielen. „Oops“ benennt für ihn die „Fehltritte“ fernab vom vorbestimmten Weg im Leben, die einem die Möglichkeit geben, daran zu wachsen. Zwei Wochen vor dem Teatro Delicat reiste Philipp nach Griechenland, übte dort seine Tanzschritte und stellte aus zufälligen Funden sein Bühnenoutfit zusammen: ein Fächer, ein goldener Kimono und eine Perlmutkette. Als der Tag seines Debüts gekommen war, war er aufgeregt. Seine Freundin begleitete ihn und lockte seine Drag mit wunderschönem Make-up hervor.
Die Show lief fabelhaft und Die Philipp fühlte sich glücklich und frei – so frei, dass er nachts auf dem Nachhauseweg nicht einmal merkte, dass er seine Hose im Club vergessen hatte und in engem silbrigen Oberteil und Boxershorts durch die Stadt lief. Nun, vielleicht passt genau das zu seinem Wunsch: Es sollte einfach egal sein, was jemand trägt oder wie er sich identifiziert.
Drag spielt mit Geschlechtlichkeit und Gegengeschlechtlichkeit. Es treibt Stereotypen ad absurdum und zeigt damit, dass diese nicht personengebunden sind. Die Erschaffung eines Alter Egos ist für Regisseur und Musicaldarsteller Enrico der zentrale Punkt in der Dragwelt. „Als Drag kannst Du Leute eher vor den Kopf stoßen, laut sein, fordernd und vulgär.“
Er erlebt dies in seiner Regiearbeit. Hier lernt er beide Charaktere kennen – die Drag-Queen und den Mann dahinter. Oft wirken die Männer, denen er zuerst begegnet, schüchtern und zerbrechlich, fast kindlich. Als Drag-Queen haben sie ganz andere Gestaltungs- und Erlebnismöglichkeiten. Sie sind spannender für die Außenwelt und gleichermaßen anziehend. Da sind zwei Persönlichkeiten in einem Menschen, der unscheinbare Mann und die schillernde Drag-Queen. Die Regie einer Dragshow unterscheidet sich hier insbesondere zu der mit Schauspielern. Enrico arbeitet mit zwei Charakteren.
Da ist die Drag-Queen, die starke Persönlichkeit, die alles besser weiß und kann und immer nach vorne prescht. Enrico selbst hat dieses Alter Ego, Pia Oxford, 2010 geboren. Er bekam in dem Jahr ein Engagement auf dem Queerboot als Sänger. Im Publikum und auf der Bühne waren hauptsächlich Transvestiten und Transmenschen. Da er sich anpassen wollte, kleidete er sich frauenhaft und komplettierte sein Outfit mit Make-up und einer Perücke. Als professioneller Theatersänger ist er eine solche Verkleidung gewohnt und kann sich gut in Szene setzen. An dem Abend entstanden intensive Gespräche und vor allem beantwortete er Fragen zu Make-up und Outfit. Diese Begegnungen faszinierten ihn so sehr, dass er Drag kurze Zeit später auch für sich entdeckte.
Auf dem CarneBall Bizarre im Berliner KitKatClub sammelte Pia Oxford erste sexuelle Erfahrungen. Pias Gedanke im Vorfeld war, dass wohl auch heterosexuelle Männer sie nun anal nehmen wollen würden. Vielmehr verloren Männer bei ihr jedoch Hemmungen, selbst anale Erfahrungen zu machen. Drag und Originalcharakter können Sexualität auf sehr unterschiedliche Weisen leben. Die Drag-Queen ist oft auch diejenige, die ihre Wünsche offen ausspricht, denn Ablehnung trifft dann die Drag, nicht den Menschen dahinter. Oft passiert es auch, dass jemand nur noch als Drag-Queen Sex hat. Drag ist kein Fetisch, kann aber Auslöser für bestimmte Vorlieben sein, die der Drag-Charakter auch leichter ausleben kann.
2019 setzte Enrico als erfahrene Musicalregisseur erstmalig eine Dragshow um. Er arbeitet hier vor allem an der Basis, es geht um Inhalt und Wirkung. Obwohl er die Szene da bereits seit neun Jahren aus eigener Perspektive erlebte, wurde er in der Regiearbeit stark mit dem zwiegespaltenen Charakter einer Person und ihrer Drag-Identität konfroniert. Corona-bedingt wurde die Premiere immer weiter nach hinten verschoben – ein schwer zu ertragender Zustand für die Drag-Queen, der die Unsicherheit zu schaffen machte. Charakterbedingt stehen Drag-Queens vor allem in One-Women-Shows auf der Bühne. Sie plaudern über sich, über eigene Erfahrungen. Die Shows sind nicht selten komödiantisch und greifen Themen auf, mit denen sich auch das Publikum identifizieren kann, etwa Altern, Bodyshaming, Akzeptanz
und Toleranz.
Drag erzählt uns also eine Geschichte, zeigt die Seite der Menschen, wie sie sein möchten und wohl auch, was sie in der Gesellschaft fordern. Enrico würde sich etwas weniger Ellenbogenmentalität unter den Drags wünschen. In Deutschland ist die Szene eher underground, anders als als die Glamszene in den USA, die öffentlich und im Zusammenhalt ihre Werte lebt. „Probier mal, die Rollen zu vertauschen“, sagt Enrico fordernd, und spricht dabei wohl auch Philipp aus dem Herzen und allen anderen, die in ihren Shows die gesellschaftliche Wahrnehmung von Stereotypen durch den „Drag“ ziehen.